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Brandbrief an die Politik

Wir fordern zum Handeln auf.

Liebe Regierung, liebe Politiker*innen!

In diesem offenen Brandbrief möchte ich Sie auf die Probleme der pädagogischen Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen aufmerksam machen, Ihnen die Dringlichkeit der Situation vor Augen führen und Sie gleichzeitig zum Handeln auffordern.

Es geht bei unserer Arbeit immer um das Wohl der von uns betreuten jungen Menschen. Die Rahmenbedingungen, die uns die Politik vorgibt, sind allerdings aus vielen Gründen nicht ausreichend, um uns Pädagog*innen bei unserer wichtigen Funktion zu unterstützen. Die Probleme der Jugendhilfe möchte ich Ihnen aus der Perspektive einer Pädagogin, die ihren Beruf seit vielen Jahren mit viel Leidenschaft und Enthusiasmus ausübt, nachfolgend erläutern. Ich hoffe, dass Sie meine Sorgen und meine konstruktiven Vorschläge zur Lösung der bedenklichen Situation ernstnehmen. 

Meine Arbeitsgrundlage ist der §34 SGB VIII. Hier wird sinngemäß festgelegt, dass Heimerziehung und die sozialpädagogische Betreuung in sonstiger Wohnform die Aufgabe haben, positive Lebensorte für Kinder und Jugendliche zu bilden, wenn diese vorübergehend, mittelfristig oder auf Dauer nicht in ihrer Familie leben können. Die stationäre Jugendhilfe, in der auch ich arbeite, ist also eine ausgelegte Lebensform, die auf ein selbstständiges Leben vorbereiten soll. Diesen Auftrag erfülle ich jeden Tag und nach wie vor stehe ich zu meinem Beruf und übe ihn mit Begeisterung aus. Als ausgebildete Erzieherin/studierte Pädagogin erlebe ich aber gleichzeitig täglich, dass aufgrund des Fachkräftemangels die Erfüllung dieses Auftrags immer schwieriger wird. Ich persönlich bemühe mich, etwas dagegen zu unternehmen und versuche, junge Menschen für den Beruf der*des Erzieher*in zu gewinnen und ich bin nach wie vor der Ansicht, dass dieser Beruf eine sinnstiftende und gesellschaftlich wichtige Tätigkeit ist. Doch bei aller Überzeugung fällt es nicht leicht, junge Menschen zu motivieren, diesen Beruf zu ergreifen, wenn die Rahmenbedingungen nicht stimmen. Als größte Hürden erweisen sich in erster Linie die schulische Ausbildung ohne Einkommen, das geringe Gehalt und die fehlende gesellschaftliche Wertschätzung. So überrascht es nicht, dass es aktuell bundesweit 20.600 nicht besetzte Stellen in der Berufsgruppe der Sozialarbeit und Sozialpädagogik gibt. So ist es im aktuellen Kurzbericht des Instituts der deutschen Wirtschaft vom August 2022 aufgeführt (Quelle 1). In der Folge gibt es weder Personal für Inobhutnahmestellen der Kinder- und Jugendhilfe, noch für Wohngruppen, noch für Erziehungsstellen, noch für familienanaloges Wohnen.

Neben dem Fachkräftemangel stellen die Krisen unserer Zeit alle Mitarbeiter*innen der Jugendhilfe vor extreme Schwierigkeiten. Die Corona-Pandemie war für jeden Menschen in Deutschland und weltweit eine große Belastung. Die Kinder- und Jugendhilfe erhielt allerdings, anders als andere Berufsgruppen, kaum Unterstützung. Angefangen von der fehlenden Priorisierung bei den Impfungen bis hin zu den fehlenden finanziellen Hilfen. Wurden die Lockdowns in der Coronapandemie noch flexibel und mit viel Leidenschaft von den Pädagog*innen gemeistert, so kommt nun mit dem Ukraine-Krieg die nächste Krise, die aufgrund der hohen Anzahl von Geflüchteten auch die Kinder- und Jugendhilfe massiv betrifft. Der Bedarf an gut ausgebildeten pädagogischen Fachkräften steigt wieder exorbitant an.

Spätestens jetzt wäre es an der Zeit, auf politischer Ebene zu handeln. Sie müssen dafür Sorge tragen, dass die anerkannten Kolleg* innen nicht aus der Pädagogik abwandern, dass mehr junge Menschen für den Berufsweg in der Pädagogik begeistert werden und dass ein vernünftiger finanzieller Rahmen die Arbeit der Kinder- und Jugendhilfe stützt.

Was passiert, wenn junge Menschen nicht die notwendige pädagogische Unterstützung bekommen und wie sich dies unmittelbar auch gesellschaftlich auswirkt, belegt unter anderem eine neue Studie von Dr. Alexander Yendell und Professor Dr. Oliver Decker, die in Zusammenarbeit von Forscherinnen und Forschern des Else-Frenkel-Brunswik-Instituts (EFBI), des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (Teilinstitut Leipzig) und der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/ Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm durchgeführt wurde. Hier werden die Zusammenhänge zwischen emotionaler Vernachlässigung von jungen Menschen und sogenannter „dunkler Persönlichkeitseigenschaften und gesteigerter Gewaltbereitschaft“ aufgezeigt. Die Ergebnisse sind einerseits als Grundlagenforschung zu Radikalisierungsprozessen und Rechtspopulismus zu begreifen. Anderseits sollte das Ergebnis politisches Ohr finden, denn die Verfasser* innen der Studie zeigen deutlich auf, dass die Jugendhilfe einen wichtigen Beitrag leistet, um solchen „negativen“ Prozessen entgegenzuwirken. Die Studie hebt hervor, dass junge Menschen „liebevoll und ohne verbale, physische und sexuelle Gewalt aufwachsen“ müssen. Eben das gewährleistet die Kinder- und Jugendhilfe, wenn das Elternhaus diese Rolle aus verschiedenen Gründen nicht einnehmen kann (Quelle 2).

Nachdem ich Ihnen einen Eindruck von der Situation in der Kinder- und Jugendhilfe vermittelt habe, möchte ich an dieser Stelle noch einmal zusammenfassen, wo ich Handlungsbedarf sehe und Ihnen einige Lösungsansätze unterbreiten, die, das will ich dazu sagen, schon vor langer Zeit von den politischen Entscheider*innen hätten gelöst werden können und müssen:

1. Der Fachkräftemangel:

  • Die schulische Ausbildung für angehende Pädagog*innen sollte einer dualen Ausbildung weichen, um jungen angehenden Erzieher*innen die Inhalte ihres Berufs praxisnah zu vermitteln. Die Praxis würde zusätzlich von den angehenden Fachkräften profitieren.
  • Wichtig ist die finanzielle Anerkennung. Auch angehende Erzieher*innen sollten im Rahmen ihrer Ausbildung eine auskömmliche Vergütung bekommen.
  • Die gesellschaftliche Anerkennung des Berufs muss steigen. Dazu zählt, dass das Gehalt der Kolleg*innen in der Pädagogik steigt und dem gesellschaftlichen Beitrag ihrer Arbeit gerecht wird. Zwar ist schon etwas passiert, aber es gibt noch Luft nach oben. Zudem sollte über gezielte Kampagnen von staatlicher Seite für das Berufsbild der*des Erzieher*in geworben werden, um einer Entsolidarisierung vorzubeugen.

2. Die finanzielle Situation:

  • Die in der Jugendhilfe stationär untergebrachten jungen Menschen wurden beim Coronakinderbonus zweimal vergessen. Für mich stellt sich die Frage, warum der Bonus auf die Girokonten der leiblichen Eltern ging, obwohl die Kinder hiervon objektiv nicht profitieren konnten?
  • Der Arbeitgebende ist gesetzlich verpflichtet, die Gesundheit der Mitarbeiter* innen besonders zu schützen. Masken, Tests, Hygienematerial mussten finanziert werden. Das hätte die Aufgabe des Staates sein sollen.
  • Junge Menschen mit Pflegegrad in Wohngruppen können nicht vollumfänglich auf die Leistungen der gesetzlichen Pflegekasse zugreifen. Das ist ein großes Problem, denn so erhalten die jungen Menschen mit Hilfebedarf nicht die Leistungen, die ihnen zustehen.
  • Während der Lockdowns stellten Sie die Jugendhilfe bezüglich der Beschulung vor exorbitante Herausforderungen. Es mussten nicht nur – unter einem Fachkräftemangel – personelle Ressourcen geschaffen werden, ebenso musste umfänglich Hardware eingekauft und finanziert werden.
  • Die Kosten der Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe steigen stetig durch die Explosion der Gas- und Stromkosten. Ich bitte Sie daher inständig darum, unsere Einrichtungen bei den „Entlastungspaketen“ und den Maßnahmen zur Senkung der Energiekosten nicht zu vergessen. Hilfreich wäre ein Schutzfonds für soziale Einrichtungen, wie die Kinder- und Jugendhilfe.

3. Der Gesundheitsschutz:

  • Fakt ist, dass Erzieher*innen der stationären Jugendhilfe bei der Rankingliste für die Covid 19-Impfungen vergessen wurden. Was wäre passiert, wenn die Mehrheit der Pädagog* innen erkrankt wäre und nicht mehr für die jungen Menschen im stationären Kontext hätte da sein können? Es ist dem verantwortungsvollen und umsichtigen Handeln der Kolleg*innen zu verdanken, dass dies am Ende nicht passiert ist. Der Staat hatte daran keinen Anteil. Aus diesem Grund möchte ich Sie eindringlich bitten, zukünftig andere Priorisierungen vorzunehmen, um das System der Jugendhilfe in einem solchen Fall aufrechtzuerhalten.
  • Zuletzt versetzten Sie der Jugendhilfe mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht einen weiteren Seitenhieb. In der Folge wanderte weiteres Fachpersonal ab, da diese Impfpflicht beispielsweise nicht für Kindertagesstätten gilt. Hier wäre eine Impfpflicht für alle Bereiche nachvollziehbarer und fairer.
  • Die Coronapandemie hat die Wohngruppenarbeit besonders hart getroffen. So wurde in unserer Einrichtung von Seiten der Behörde eine neunwöchige Quarantäne für eine Gruppe verordnet. Können Sie sich vorstellen, was es für junge Menschen und Personal physisch sowie psychisch bedeutet, neun Wochen ihrer Freiheit entzogen zu sein?
  • Pädagog*innen sind in ihrem beruflichen Alltag physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Lärm, Zeitdruck, Stress, Rückenprobleme, Infektionskrankheiten, Burnout, sowie schwieriges Klientel als Belastungsfaktoren, sind in dieser Berufsgruppe keine Besonderheiten.

Es muss sich etwas ändern und ich sehe Sie an dieser Stelle in der Verantwortung, um diese Veränderungen in die Wege zu leiten. Ich hoffe, ich konnte Ihnen die Dringlichkeit der Situation vor Augen führen. Dankbar wäre ich für eine Rückmeldung zu meinen Schreiben.

Mit freundlichen Grüßen

Katrin Wichern

Quellen

1 vgl. Hickmann, Helen / Koneberg, Filiz, 2022, Die Berufe mit den aktuell größten Fachkräftelücken, IW-Kurzbericht, Nr. 67, Köln.
2 vgl. Yendell, Alexander; Clemens, Vera; Schuler, Julia; Decker, Oliver (2022): What makes a violent mind? The inter play of parental rearing, dark triad personality traits and propensity for violence in a sample of German adolescents. In: PLOS ONE 17 (6), e0268992. DOI: 10.1371/journal.pone.0268992

Hier finden Sie einige bisherige Antworten auf den Brandbrief:

Hier finden Sie den Brief zum Download: